- Mai,2023
Tiefenpsychologisch
Tiefenpsychologisch
Was bedeutet tiefenpsychologisch?
Der Ausdruck Tiefenpsychologie war schon Anfang des letzten Jahrhunderts in der Psychiatrie gebräuchlich. Freud griff ihn auf, um sein Forschungsinteresse von der vorherrschenden Bewusstseinspsychologie abzugrenzen. Tiefenpsychologisch bezieht sich daher auf angenommene tiefere Schichten, die dem Bewusstsein kaum oder gar nicht zugänglich sind. Nach psychoanalytischer Erfahrung üben sie dennoch einen großen Einfluss auf unser bewusstes Erleben und Verhalten aus. Freud bezog seine Annahmen darüber aus den Analysen seiner eigenen Patienten:innen. Lässt man Menschen im psychoanalytischen Setting, also liegend über längere Zeit gegenüber einer abstinenten Behandler:in frei assoziieren, sprechen sie über „unbewusste“ Themen, ihre Sexualität und die frühesten Erfahrungen mit Mutter und Vater. Tiefenpsychologisch kann sich deshalb auch zeitlich auf frühere Kindheitserfahrungen beziehen. Dabei ist bekannt, dass die frühe Familienatmosphäre die gesamte weitere psychische Verarbeitung beeinflusst und grundlegend die Herausbildung des individuellen Charakters einer Person stimuliert.
Systemisch erleben in Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung
Grundzüge tiefenpsychologischen Arbeitens und Verstehens
Grundpfeiler tiefenpsychologischen Arbeitens und Verstehens sind die lebensgeschichtliche Anamnese und eine bestimmte Form der therapeutischen Haltung. Die Behandler:in versucht durch ihre abwartend-fragende und nicht direktive Haltung einen Raum herzustellen, der die Patient:innen zu mehr Verstehen ihrer oft rätselhaften Symptome und Verhaltensweisen anregt. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, tiefenpsychologisch fundiertes Arbeiten und Therapie nur als Beschäftigung mit der Kindheit zu sehen. Es geht um die aktuellen Probleme und ihre Bewältigung. Der Blick zurück kann enorm wichtig sein, wenn er zu mehr innerer Freiheit und damit zur Lösung beiträgt. In der Regel können Menschen aktuelle Konflikte selbst lösen oder ertragen. Gelingt dies nicht, kann es sich um Konstellationen handeln, die in der Lebensgeschichte nicht bewältigt wurden. Beim tiefenpsychologischen Arbeiten wird versucht die kindlichen Ängste, die heute eine Hemmung erzeugen, zu erkennen. Werden sie bewusst, gelingt es eher, sie realitätsgerecht zu überwinden.
Psychotherapie tiefenpsychologisch – Häufige Interventionen
Eine Psychotherapie, die sich tiefenpsychologisch versteht, verwendet meist die drei Interventionen: Klarifizieren (auch Klären genannt), Konfrontieren und Deuten. Klarifizieren bedeutet genauer verstehen zu wollen. Dazu dienen Fragen wie: „Ich würde gern besser verstehen, was sie damit meinen?“ Oder: „Können sie dieses Gefühl noch näher beschreiben?“. Konfrontieren kann meinen, die Patient:in auf Widersprüche oder Auffälliges hinzuweisen, z. B. durch den Satz „Mir fällt auf, dass sie immer wieder …“. Entscheidend dabei ist, dass eine solche Intervention nicht als Vorwurf erlebt wird. Dies würde den Widerstand erhöhen. Die sogenannte „nicht strafende Konfrontation“ nach Roderich Hohage in der tiefenpsychologischen Therapie enthält immer zugleich eine Erklärung, die das konfrontierte Verhalten verständlich erscheinen lässt. Eine Deutung geht noch weiter über das Beobachtbare hinaus. Sie enthält eine Vermutung über bisher nicht bewusste Zusammenhänge (z. B. „Kann es sein, dass sie sich ihrem Chef gegenüber ähnlich fühlten, wie damals in der Situation mit ihrem Vater?“). Ziel ist es, die Patienten dadurch zu einem tieferen Verständnis ihres Erlebens und Verhaltens zu führen. Eine Deutung tiefenpsychologisch verstanden kommt jedoch nur an, wenn die Patienten:innen sie mit ihrer Wahrnehmung in Einklang bringen können.
Tiefenpsychologisch orientierte Schulen und Richtungen
Zu den Schulen der Tiefenpsychologie gehört neben der Psychoanalyse Siegmund Freuds, die sogenannte Analytische Therapie nach Carl Gustav Jung sowie die Individualpsychologie Alfred Adlers. Wichtige Weiterentwicklungen der tiefenpsychologischen Schulen waren die Ich-Psychologie, die unter anderem von Anna Freud und Heinz Hartmann geprägt wurden. Ihr verdanken wir eine genauere Beschreibung der Abwehrmechanismen, und der Funktion des Ichs zwischen Wunsch, Angst und Abwehr. Die Selbstpsychologie, die unter anderem auf Heinz Kohut zurückführbar ist, betont die Rolle eines geschwächten Selbst bei vielen psychopathologischen Problemen. Mit der Objekt-Beziehungstheorie von Melanie Klein trat die prägende Rolle der frühesten Mutter-Kind-Beziehung in den Vordergrund. Damit einher ging eine Verlagerung des Interesses von der frühen Sexualität nach Freud hin zur frühen Aggression nach Otto Friedmann Kernberg. Aktuell prägen die strukturbezogene Therapie, insbesondere bei sogenannten Persönlichkeitsstörungen und die operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD) die Debatte in den tiefenpsychologisch orientierten Schulen und Richtungen. Die bei Freud und Jung noch im Zentrum stehende Traumdeutung spielt heute kaum mehr eine Rolle.